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Schwarze Katze Tod

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Im Wachtraum einer schlaflosen Nacht stand plötzlich der Tod vor mir. In Gestalt einer schwarzen Katze verlangte er unmissverständlich Einlass in mein Leben. Ich erschrak zutiefst und verjagte ihn entschlossen, doch der Schreck saß mir in den Knochen und ließ sich nicht so einfach abschütteln. Da fing ich an, zumindest darüber nachzudenken. Ich näherte mich sehr vorsichtig an und empfinde mittlerweile sogar Dankbarkeit für diese wesentliche Begegnung. Sie war selbst für meinen Geschmack echt heftig, aber hoch wirksam.

Man kann es immer wieder lesen, dass der Tod zum Leben gehört. Nur die wirkliche, echte Erfahrung des Todes in all seinen Formen – die wollen wir lieber doch nicht machen, es tut eben zu sehr weh. Ich erinnere mich an Gespräche, in denen ich (Anfang zwanzig und durchaus neunmalklug) sagte, dass wir, also die westliche Gesellschaft, einfach den Todesaspekt wieder in unser Leben integrieren müssten, um wieder mehr ins Gleichgewicht zu kommen. Rückblickend würde ich sagen: Weiser Gedanke! Aber nichts wert, wenn man nicht in der Lage ist, im Angesicht des Todes eben ruhig stehen zu bleiben und ihn als Teil des Lebens willkommen zu heißen. (Für Fortgeschrittene: Ihn sogar zu lieben.) Diese Integration wirklich, ganz konkret und täglich zu LEBEN.

Das ist nicht leicht. Gerade oben genanntes Erlebnis, durch das mir die Intensität einer Begegnung mit dem Tod klar wurde, zeigt mir, wie schwer das ist. Unsere Kultur bringt uns das nicht bei; ich glaube, sie hat es verlernt und ist selbst hilflos. Für uns aber können wir es lernen und ich denke, früher oder später müssen wir diesen Schritt zwangsläufig tun, wenn wir uns ernsthaft auf den Weg zu uns selbst gemacht haben. Vielleicht haben wir auch innerlich und vor langer Zeit eine Verabredung mit dem Frieden getroffen (ich habe das, und ich weiß, dass ich nicht die einzige bin). Frieden beginnt ja bekanntlich in uns selbst, also unter anderem mit der Akzeptanz all der düsteren Schatten und ihren alten Schmerzen, die ja nur gesehen und geliebt werden wollen. In den Schatten erkenne ich immer wieder nichts anderes als den Tod in einer seiner Facetten.

Die schwarze Katze jedenfalls war eine gute Lehrerin, streng zwar, aber weise.
Sie hat mir mit ihrer brutalen Lektion ermöglicht, die Welt für einen Tag so zu sehen, wie sie sich am letzten Tag anfühlt. Und das nicht nur gedanklich – sie hat mich in die reale Erfahrung eines letzten Tages gezwungen und damit die (mit allen Sinnen gefühlte) Erkenntnis ermöglicht, dass in Wahrheit jeder Tag unser letzter seit kann. Jede Minute die letzte, in der wir einen gesunden Körper haben, jede Stunde mit einem lieben Menschen die letzte, in der wir seine Stimme hören. Nicht unbedingt, weil wir physisch sterben, sondern weil sich das Leben permanent verändert, wenn wir es zulassen. Und in dieser Veränderung liegt bereits der Tod, ein Gehen-Lassen von etwas Bekanntem und ein Willkommen-Heißen von etwas Neuem und das kann sich durchaus unangenehm anfühlen und sich zuweilen auch zu einem empfundenen Horror-Trip steigern.

Das Leben besteht aus Leben UND Tod, zu gleichen Teilen. Sie sind in einem ewigen Tanz verflochten, der Bewegung und damit Lebendigkeit erst möglich macht. Das ist eine Realität, der ins Auge zu sehen Mut braucht, denn es erfordert den eigenen Frieden mit dem Tod. Und dieser hat so viele Facetten und ist permanent überall zu sehen. Seit meiner „Vision“ der schwarzen Katze erforsche ich neugierig mein Umfeld. Wo ist der Tod überall wahrnehmbar? Ich sehe die verblühten Pfingstrosen im Garten. Sie sehen traurig aus, so zerfleddert, und eine beflissene Staudengärtnerin würde sofort die Gartenschere zücken und alles Verblühte abschneiden. Sieht so hübsch ordentlich aus. Ich halte mich aber gerade zurück und lasse das Bild auf mich wirken. Und erkenne sofort, dass im Tod der Blüte ja eine neue Geburt, nämlich die des Samens liegt. Oder das welke Blatt, das durch seine Auflösung in Humus verwandelt werden kann und damit unsere Lebensgrundlage sichert. (Ist das nicht ein famoses Beispiel für wahre Hingabe? Können wir auch so hingegeben sein? Was bedeutet das?)

Bei allem Verständnis für Lebensprozesse und dem Trost, den der Gedanke an den ewigen Kreislauf schenken kann, gilt es aber dennoch, wirklich loszulassen. Von der Schönheit der Blüte, von der Leichtigkeit der Jugend, von einem ungelebten Traum oder was auch immer gerade in uns im Sterben liegt. Wenn es vorbei ist, ist es vorbei. Das tut manchmal höllisch weh. Das bedeutet Trauerarbeit und auch hier gibt uns unsere Kultur nur wenig an die Hand. Ich denke, es ist in Ordnung, wenn wir uns Wissen und Rituale von anderen Kulturen ausleihen, damit wir daraus wieder eine eigene Trauerkultur entwickeln können. Eine solche empfände ich als große Erleichterung bei der Auseinandersetzung mit dem Tod.

Ich jedenfalls erwische mich oft dabei, wie ich mir zwar vornehme, den Tod zu akzeptieren, in Wahrheit aber doch die Augen verschließe. Wie ich jetzt weiß, verschließe ich mich damit gleichzeitig der Erfahrung, wie die Welt aussieht, wenn ich eng umschlungen Arm in Arm mit dem Tod spazieren gehe und zulasse, dass er mein Herz berührt:

Die Welt funkelt in tausend Farben. Alles, was man sehen und riechen und anfassen kann, strahlt in einer unfassbaren, überbordenden Schönheit. Mir ist fast das Herz zersprungen vor Glück, in genau diesem Körper, mit diesen Menschen um mich herum zu SEIN. Mit meinem Sohn zu kuscheln, im Bewusstsein, dass es das letzte Mal sein könnte, sein Lachen in mich aufzusaugen. Gleichzeitig war die tiefe Trauer, das alles loslassen zu müssen, auch die ganze Zeit da. Das ergab einen Gefühls- und Wahrnehmungs-Cocktail, der unvergleichlich schön und schmerzhaft zugleich war. Was ich auch begriff: DAS ist die ganze Realität. Jeder Tag kann de facto der letzte sein. Ich werde sterben und ich werde geliebte Dinge, Projekte, Menschen, Träume loslassen müssen, weil ihre Zeit gekommen ist. Ob ich das nun verstehe oder nicht.

Ich habe dem Tod ins Auge geblickt und was ich sah, war erstaunlicherweise nicht etwa die Hölle – im Gegenteil. Im Tod selbst konnte ich erst das Paradies erkennen, in dem ich lebe. Welche Erfahrungstiefe wir uns da entgehen lassen, wenn wir (in diesem Maße, wie wir es tun) nach „Sicherheit“ streben! Es gibt ja keine Sicherheit, kein Entrinnen. Wir können dagegen ankämpfen und den Kürzeren ziehen. Oder wir können Frieden schließen und die Schönheit dieses Lebens unser Herz knacken lassen.
Ich bin ja im Zweifel immer für Frieden – nach dieser Erfahrung erst recht.

Eine Übung, die ich sehr wirksam finde, ist, mir abends die Zeit zu nehmen und Frieden mit meinem Leben zu schließen. So, als würde ich am nächsten Morgen tatsächlich nicht mehr aufwachen. Ich frage mich:
Was war gut?
Wo bin ich mir treu gewesen?
Und wo habe ich nicht meinem Herzen nach gehandelt?
Bereue ich etwas?
Und: Muss ich noch etwas erledigen, bevor ich gehe?

Bezüglich der Auswirkungen dieser Übung lade ich jede*n Neugierige*n ein, sich einmal oder öfter geistig „aufs Sterbebett zu legen“. Ich liebe diese Übung und freue mich über Austausch! Auch zum Beispiel darüber, wie mit den Emotionen und Handlungsmustern umzugehen ist, die der Todesaspekt in uns auslöst und wie man sie handhaben kann. Das ist nochmal ein Thema für sich, geht aber erstaunlich gut, wenn man erst mal den Bogen raus hat. Und ehe man sich‘s versieht, ist man per Du mit dem gruseligen Gevatter und kann erstaunt feststellen, dass sogar er einen gewissen Humor hat. Hello, darkness, my old friend…

Mittlerweile, ein paar Tage nach dem Schreck, empfinde ich sogar tatsächlich eine vorsichtige Vorfreude auf die nächste Begegnung mit dem Tod. Diese merkwürdige Mischung aus Trauer und Dankbarkeit, aus kreischendem Verlustschmerz und purem Existenzglück hat mich ja schon neugierig gemacht. Mir scheint, als läge darin ein großer Schritt in Richtung Frieden – und Freiheit.

Mein wagemutiger Forscherinnengeist plant schon die nächste Exkursion, „Tanzkurs mit dem Tod“ oder so.

Ich will das können. Wer kommt mit?

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