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Über Bedürfnisse und Verantwortung

Das wissen wir mittlerweile: Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen für unsere Bedürfnisse.

Dabei war lange Zeit für mich die größte Schwierigkeit, anzuerkennen, dass ich meist mehr als ein Bedürfnis in mir trage. Ich bestehe aus so vielen Facetten, die sich zum Teil stark zu widersprechen scheinen, dass es oft einem unmöglichen Jonglage-Akt gleichkommt, allen diesen inneren Anteilen gerecht zu werden.
Und das ist ja nur IN mir! Außerhalb von mir geht‘s ja dann gleich weiter mit der kunterbunten Bedürfnis-Gemengelage von den anderen Familienmitgliedern, die alle genauso komplexe Lebewesen sind wie ich.
Ich sinke ächzend in einen Sessel. Wie soll das schaffbar sein??

Gerade bei Frauen beobachte ich die Tendenz, in die Falle zu tappen, alle Bedürfnisse, die sie wahrnehmen, auch erfüllen zu wollen, und zwar aus eigener Kraft. Wenn sich das „nur“ auf die Bedürfnisse außerhalb von ihr bezieht, ist das schon anstrengend genug (Stichwort Mental Load). Wenn sich aber eine Frau dann auch noch bewusst wird, dass auch IN ihr so viele Anteile schlummern, die gerne Ausdruck finden würden, gerät das Fass schnell zum Überlaufen.

Ich kenne die Verzweiflung gut, die sich breit macht, wenn ich wieder mal erkenne, dass ich all dem nicht gewachsen bin. Dass ich SO viele Bedürfnisse überall wahrnehme – einfach, weil ich feine Antennen für Unstimmigkeiten aller Art habe. Und ich glaube, das ist eine grundlegende Fähigkeit des Weiblichen in uns. Das Dilemma ist, dass weder meine Zeit noch meine Kraft noch meine Freude ausreichen, um diese ganzen unerfüllten Bedürfnisse zu stillen
.
Ein weiterer Aspekt, der dazu beiträgt, dass der innere Druck ins Unermessliche steigt, ist der, dass ich mich oft bei folgendem Gedankenmuster erwische:
Ich nehme in mir zB das Bedürfnis nach Ruhe und Natur wahr. Ich ignoriere es eine Weile, denn ich hab ja alle Hände voll zu tun: Mein Kind braucht mich, der Garten auch. Achja, und ich sollte noch dringend diese Überweisung tätigen und meine Oma habe ich treulose Tomate auch schon lang nicht mehr angerufen (schlechtes Gewissen).
Mein Bedürfnis nach Ruhe und Natur wird unterschwellig immer größer. Ich werde ungeduldiger und reizbarer. Im schlimmsten Fall breche ich schließlich einen Streit vom Zaun, nur um türenknallend und angepisst verschwinden zu „dürfen“. Da endlich nehme ich meine Grenze wahr, die ich natürlich schon längst überschritten habe (schon wieder! Wut auf mich selbst), und mir wird eines klar: Ich muss hier raus! Ich verkaufe alles, was nicht in meinen Rucksack passt, schnappe mir das große Zelt und ziehe für mindestens ein Jahr an den Waldrand! Und werde mich von wilden Zwiebeln, Quellwasser und Gebeten ernähren. Mal wieder ganz echt und nur ich sein! Im jeweiligen Moment meine ich das tatsächlich ernst und glaube, die Lösung gefunden zu haben: Ich kremple mein Leben einfach komplett um und breche alle Brücken hinter mir ab. Dann hab ich Ruhe und Natur. Mehr brauche ich ja nicht. So einfach kann’s sein!

Was ich dabei verkenne, ist, dass es neben dem Bedürfnis nach Ruhe und Natur noch weitere (mehr oder weniger bedürftige) Anteile in mir gibt. Die schreien aber gerade nicht so laut, daher nehme ich sie nicht wahr: Da ist die Frau, die gerne in Konzerte geht und für die seltenen Gelegenheiten ein angemessenes und sauberes Outfit im Schrank haben möchte. Da ist die Mutter, die total gerne mit ihrem Kind tobt und kuschelt und die sich dafür nicht verabreden will. Da ist die Gesellige, die gern mit anderen am spontanen Lagerfeuer sitzt und die Musikerin, die gerne die alten Noten und verstaubten Instrumente heraus kramt und ihre Stimme entrostet.

Für all diese Anteile ist aber das Zelt am Waldrand keine Erfüllung. Stets dämmerte mir irgendwann die nüchterne Wahrheit: Wenn ich erstmal im Zelt angekommen bin, wird als nächstes die schicke Konzertbesucherin den Rappel kriegen – und dafür sorgen, dass ich mein Leben schnell erneut ganz umkremple. Dann wird sich die Mutter in mir melden und finden, dass ich doch wieder zu meiner Familie zurück ziehen sollte. Bis ihr wiederum die Decke auf den Kopf fällt und sie sich nichts sehnlicher wünscht als ein einsames Zelt am Waldrand…

Diese extremen Gefühlswallungen haben mich jahrelang tatsächlich dazu verleitet, meine frisch ausgepackten Koffer wieder einzupacken und den unglückseligen Ort mit wehenden Fahnen zu verlassen, der es nicht verstanden hat, mich zufrieden zu stellen. Das führte zu stolzen 14 Umzügen in 9 Jahren. Ich war zutiefst erschöpft. Jedes Mal schmerzte es mehr, wenn dann unweigerlich die Frage auftauchte: „Wann werde ich endlich irgendwo ankommen?“ Und ich mir ein weiteres Mal eingestehen musste, dass ich mich mit jedem Umzug immer weiter von der Antwort weg bewege.
Mittlerweile ahne ich, wo ein möglicher Schlüssel liegt.

Wir sind nun einmal vielschichtig. Ich bestehe aus gefühlt 100 bunten Aspekten, die sich alle durch mich ausdrücken wollen. Bei der Klärung, welche Bedürfnisse es in mir überhaupt gibt, hat mir sehr das „Modell der 4 Schilde“ geholfen, das ich bei meiner Visionssuche kennen gelernt habe. In meiner eigenen Bildsprache würde ich es so beschreiben: Es geht dabei darum, sich in der eigenen Mitte zu befinden und von diesem „königlichen“ Standpunkt aus die verschiedenen „Untertanen“ (also inneren Anteile) zur Audienz zu bitten. Diese werden dann in ihrem Bedürfnis gehört, was ein erster wichtiger Schritt ist. Wenn die Königin alle angehört hat, entscheidet sie aus ihrem Zentrum, ihrem Überblick und ihrer Weisheit heraus, wessen Bedürfnis gerade das Wichtigste ist und wer vielleicht später zum Zug kommen wird. Wofür sie dann als gute Königin auch sorgt.
[Anmerkung: Im 4-Schilde-Modell werden die einzelnen Anteile den Qualitäten der 4 Himmelsrichtungen/“Schilde“ zugeordnet, wodurch der Verstand ein wenig Struktur bekommt beim Sortieren der vielen Bedürfnisse. Daher der Name.]

Es geht also eben gar nicht darum, im Zelt am Waldrand zu wohnen. Vielleicht reicht eine Wald-Nacht im Monat. Oder ein bewusster, einsamer Spaziergang in der Woche zu einem verabredeten Zeitpunkt, der gehandhabt wird wie ein wichtiger Termin. Ich muss gar nicht alle Jobs kündigen und Musikerin werden. Es reicht, wenn ich öfter mal das Radio anmache und mitsinge – natürlich so virtuos ich kann. Vielleicht entwickelt sich daraus eine Sehnsucht nach mehr. Dann kann ich mich ja im Chor anmelden und wöchentlich eintauchen.

Damit nähre ich all diese Anteile in mir, die ich bei Licht betrachtet ja niemals zu 100% ausleben werde können. Dafür reicht die Lebenszeit schlicht nicht aus. Ich glaube sogar, der 100%-Anspruch ist beim Thema „Erfüllung“ unsere größte Hürde. Letztendlich schaltet sich nämlich dann, wenn die Gefühle ein wenig abgeklungen sind, der Verstand ein und flüstert einem ins Ohr, dass es ja doch ziemlich aufwändig wäre, das mit dem Zelt am Waldrand zu organisieren. Du hast schließlich Verantwortung für andere. Du bist ja nicht mehr 17. Und der Abwasch ist auch noch nicht erledigt.
Und ehe wir uns versehen, bleiben wir genau da, wo wir sind. Und haben die Energie der Klarheit, die uns kurzzeitig zur Verfügung stand, verschwendet für große Gedanken, anstatt sie konstruktiv zu kanalisieren und für uns zu nutzen.

Es reicht, wenn wir das in uns nähren, was gerade nach Nahrung ruft. Es reicht, den Impulsen zu folgen, die uns leise, aber eindeutig sagen: Geh raus. Tank frische Luft. Tanze. Umarme. Zieh dich zurück.
Wenn wir anfangen, uns zuzuhören, werden wir immer besser darin, zu verstehen, welcher Anteil in uns sich da gerade vorsichtig meldet. Und werden auch darin besser, ihm entgegen zu kommen, damit er sich gar nicht erst so aufplustern muss, dass uns Hören und Sehen vergeht und wir uns ganze Nächte um die Ohren schlagen mit der Recherche nach dem Häuschen im Grünen.

Meine größte Herausforderung besteht im letzten und wichtigsten Schritt: Es einfach zu tun.
Bis zu diesem Punkt können uns inspirierende Mitmenschen, Freunde und Beraterinnen unterstützen und uns den Weg erleichtern. Das TUN kann uns letztlich keine abnehmen.

Das Gute daran: Es ist nur eine Frage des Willens. Und unser Wille ist frei.

Es braucht allein unsere Entscheidung, ob wir wirklich in Verantwortung gehen. Für uns, in unserer vollkommenen Komplexität.

Sehen wir doch die Größe, die in dieser Entscheidung und in dieser Freiheit liegt.


In diesem Sinne ganz herzliche Grüße von irgendwo auf diesem Weg,

Sabeth

(Copyright) Sabeth Fladt, 2021 – Bild: Alexandra K./Unsplash

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